450x300-saskiaEin Plädoyer für die Gebietsreform in Thüringen

Was haben Thüringen und Großbritannien gemeinsam? Beide diskutieren gerade die eigene Struktur: Im United Kingdom wurde im Juni über den Austritt aus der Europäischen Union abgestimmt, was noch immer viele Diskussionen um die tatsächliche Ausgestaltung nach sich zieht. In Thüringen bringt die Debatte über die Gebietsreform viele Gemüter in Wallung. Und in beiden Ländern dreht sich die Diskussion um Mittel der direkten Demokratie: Großbritannien hat mit einem Referendum den Brexit besiegelt, in Thüringen sammelt der Verein „Selbstverwaltung für Thüringen“ Unterschriften für ein Volksbegehren gegen die Gebietsreform.

Aber mir scheint, als gebe es hier noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die jeweilige Strukturdebatte wird mit Blick auf das Alter der Diskutierenden sehr unterschiedlich geführt. In Großbritannien konnte man deutlich sehen, dass junge Menschen sich sehr viel öfter für einen Verbleib in der EU aussprachen. Bei den 18-24-Jährigen waren das 80 Prozent, während die über 65-Jährigen nur zu 37 Prozent für einen EU-Verbleib stimmten.

Und in Thüringen? Wenn ich mit jungen Menschen über die Gebietsreform in Thüringen spreche, dann treffe ich auf wesentlich weniger Emotionalität als bei vielen von der älteren Generation. Die Gründe hierfür sind vielfältig und es bedürfte einer repräsentativen Erhebung, um diese wirklich festzustellen. Mein Eindruck ist jedoch: Für junge Menschen wie mich macht sich die eigene Zugehörigkeit nicht an Landkreisgrenzen fest. Für uns ist es Alltag geworden, für eine spannende Ausbildung nicht nur den Landkreis, sondern häufig auch das Bundesland zu wechseln, im Urlaub mit dem Rucksack nach Spanien zu fahren (ohne Visum und Geldumtausch) und für Beruf oder Familie ans andere Ende Deutschlands oder sogar in ein anderes Land zu ziehen. Wenn wir auf einer Reise, an der Uni oder auf einem Festival neue Leute kennenlernen, fragen wir: „Mensch, du kommst auch aus Thüringen?“. Wir fragen nicht, aus welchem Landkreis die jeweilige Person stammt. Für uns ist nicht der Name der Gebietskörperschaft, aus der wir kommen oder in der wir leben wichtig. Was zählt ist, dass das Leben in allen Regionen Thüringens lebenswert ist. Dass wir, egal wo wir wohnen, öffentliche Einrichtungen nutzen können. Und dass wir wissen, dass unsere Eltern und Großeltern, auch wenn wir wegziehen, in ihrem Wohnort eine gute Versorgung erhalten.

Aber genau das ist wegen zurückgehender Einwohner*innenzahlen, sinkender kommunaler Haushalte und einer immer dünneren Personaldecke vieler Kommunen immer seltener gewährleistet. Bereits jetzt sehen sich viele Thüringer Kommunen gezwungen, insbesondere bei den Ausgaben für freiwillige Aufgaben, zu sparen. Ein dramatischer Leistungsabbau hat bereits begonnen. Das sehen wir beispielsweise im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik. Man braucht sich nur exemplarisch die Ausgaben für Einrichtungen der Jugendarbeit anzusehen, und zwar sowohl in den bisher kreisfreien Städten als auch in Flächenlandkreisen. So sanken diese Ausgaben in der Stadt Gera zwischen 2010 und 2014 von 1,36 Millionen Euro auf 608.000 Euro und im Weimarer Land im gleichen Zeitraum von 1,017 Millionen auf unter 800.000 Euro. Hierbei handelt es sich übrigens um Kommunen, deren Oberbürgermeisterin bzw. deren Landrat gerade gegen die Gebietsreform wettern und glauben, ihre Kommunen würden in der bekannten Struktur besser zurechtkommen.

Die Handlungsspielräume der Kommunen werden sich in den kommenden Jahren insbesondere durch weiter dramatisch sinkende Einwohner*innenzahlen (bis 2035 verliert Thüringen voraussichtlich 13,1 Prozent seiner Einwohner*innen) sowie durch wegfallende Finanzmittel von der EU, aus dem Solidarpakt II und durch die Novelle des Länderfinanzausgleiches nochmals deutlich verringern. Das führt nicht nur zu steigenden kommunalen Steuern und Gebühren, sondern wird langfristig auch in noch stärkeren Streichungen von Angeboten der kommunalen Daseinsvorsorge zu spüren sein. Das macht das Leben vor allem in den ländlichen Regionen Thüringens für junge und ältere Menschen unattraktiver. In der Konsequenz bedeutet das, dass noch mehr junge Menschen den Thüringer Kommunen den Rücken kehren und dorthin ziehen, wo sie deutlich mehr Angebote in Anspruch nehmen können. Wenn es nicht eigentlich schon viel zu spät ist, dann ist es jetzt höchste Zeit, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen!

Unser aller Ziel muss es sein, Thüringen in allen Regionen und für alle Menschen lebenswert zu erhalten. Dafür brauchen wir dringend Strukturänderungen. Dafür brauchen wir die Gebietsreform. Die Gebietsreform muss die Kommunen wieder in die Lage versetzen, ihre Aufgaben vollumfänglich wahrzunehmen, insbesondere bei den sogenannten freiwilligen Leistungen, z.B. im Jugend- und Kulturbereich sowie bei der Unterstützung von Vereinen. Das wäre ein echter Fortschritt für alle. Denn dadurch würde jungen Menschen ein Anreiz geboten, auch in ländlichen Regionen Thüringens zu bleiben oder sogar dorthin zu ziehen. Auch ökonomisch Schwächeren wäre geholfen, denn diese würden von der sozialen Infrastruktur profitieren, die sich arme Kommunen nicht leisten können.

Um es ganz deutlich zu sagen: Wer sich gegen die Gebietsreform in Thüringen stellt, der macht das zu Lasten der Zukunftsfähigkeit unseres Freistaats und auf Kosten der jungen Generation!

In Thüringen wie in Großbritannien gilt: Junge Menschen haben wesentlich länger die Konsequenzen der Entscheidungen über Strukturen zu tragen. Meine Generation ist es, die mit handlungsunfähigen, ausgebluteten Kommunen leben muss, wenn wir die Chance einer Gebietsreform jetzt verschlafen!

Daher geht mein Appell an alle, die sich gegen die Gebietsreform stellen, weil sie meinen, dass die Menschen im Nachbarlandkreis nicht so recht zu ihnen passen: Fragen Sie auch mal Ihre Kinder, Ihre Enkelinnen und Enkel, was ihnen wichtiger ist: Eine vermeintliche Identität, die sich an Landkreisgrenzen knüpft oder der Erhalt von Jugendclubs oder Sporteinrichtungen, kurz einer leistungsfähigen Infrastruktur, aufgrund derer sich Menschen in der Kommune niederlassen?

Mein Appell geht auch an alle politischen Verantwortungsträger*innen in diesem Land: Wenn Sie Überlegungen anstellen, wie Ihr Votum für oder gegen die Gebietsreform wohl bei den Wähler*innen ankommt, dann bedenken Sie nicht nur diejenigen, die heute an den Wahlurnen stehen, sondern auch die, die es in 5, in 10 oder in 20 Jahren tun werden.

Ich appelliere aber auch an meine eigene Generation: Von vielen von euch höre ich, dass euch das Thema Gebietsreform nicht interessiert. Dabei seid ihr nicht unpolitisch: Viele von euch engagieren sich in der Schule, Jugendverbänden, Vereinen oder der JAV im Betrieb. Ich bewundere und schätze euer Engagement in diesen Bereichen. Aber auch das, was gerade im Thüringer Landtag diskutiert wird, bestimmt unsere Zukunft maßgeblich! Mischt euch ein, wenn über die Gebietsreform diskutiert wird. Redet mit euren Eltern, Großeltern, den Stadträt*innen, der Bürgermeisterin oder eurem Landrat darüber und stellt die Frage danach, wer von einer Gebietsreform profitiert und in wessen Interesse es ist, wenn alles so bleibt, wie es ist. Und macht deutlich, wie ihr euch Thüringen in 20, in 30 Jahren vorstellt. Meine Vision vom Thüringen der Zukunft ist ein weltoffener, solidarischer Freistaat, in dem alle Menschen die gleichen Chancen haben, an Kultur, sozialer Vorsorge und Entscheidungen teilzuhaben. Das geht nur, wenn wir jetzt die notwendigen Strukturänderungen durchführen. Das geht nur mit der Gebietsreform!

In Großbritannien sind nur 36 Prozent der 18 – 24-Jährigen zur Abstimmung über den Brexit gegangen. Von den über 65-Jährigen waren es 83 Prozent! Vielleicht wäre der Brexit verhindert worden, wenn mehr junge Menschen ihre Stimme erhoben hätten. Lernen wir in Thüringen daraus!

Saskia Scheler – Landesvorsitzende der Jusos Thüringen

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